Sekunden eines Unfalls

 
 
Warum schreibe ich meine Gedanken, die mir waehrend eines Unfalls durch den Kopf gingen? Bestimmt nicht, um euch Angst vor dem Motorradfahren zu machen, auch nicht, um euch daran zu erinnern, nur mit perfekter Schutzkleidung zu fahren. Moechte gar nichts bewirken, nur einmal ein paar Sekunden aufdroeseln und zeigen, wie viele Gedanken in ein paar Sekunden ablaufen koennen, weil das so aussergewoehnlich ist.

Sekunde 0

Fahre auf einer innerstaedtischen Strasse mit ca. 60 km/h und freue mich, dass mein Motorradausflug so schoen war und auf das Abendessen zu Hause.

Sekunde 1

Vor mir faehrt ein schwarzer VAN, verlangsamt seine Geschwindigkeit, moechte wohl rechts in eine Seitenstrasse abbiegen?

Sekunde 2

Nehme Gas weg, bin bremsbereit, um zu sehen, ob meine Annahme richtig ist. Ja, er setzt den Blinker.

Sekunde 3

Meine BMW R1100RS hat so viel „Motorbremskraft“, dass sich meine Geschwindigkeit auf ca. 40 km/h verringert hat.

Sekunde 4

Der VAN ist jetzt ca. 20 Meter vor mir und faehrt in die Kurve ein. Habe rechts noch eine Radfahrerin gesehen, weil ihr Kleidchen so lustig flatterte, die auf dem Radweg in die gleiche Richtung wie ich fuhr. Der VAN wird wohl anhalten, um der Radlerin die Vorfahrt zu gewaehren. Ja, er haelt im Scheitelpunkt der Kurve an.

Sekunde 5

Halte ich an? Nein, es ist genuegend Platz fuer mich, ohne auf die Gegenfahrbahn zu muessen. Drehe langsam am Gas, um wieder etwas zu beschleunigen. Passiere das Heck des VAN und mein Blickfeld ist jetzt wieder frei fuer die gesamte Fahrbahn und auch auf die Einmuendung der Seitenstrasse. Jetzt sehe ich zum ersten Mal einen PKW, Golf, Opel oder irgendwas in dieser Richtung.

Sekunde 6

Der steht aber nicht, nein, der faehrt. Sch...e, der wird sogar schneller, der Vorderwagen wird riesig, hinter der Windschutzscheibe sehe ich ein Gesicht, ich schaue auf den Kuehlergrill, der riesige Ausmasse annimmt, von den Proportionen stimmt nichts mehr zusammen. Fuer einen kurzen Moment besteht der PKW nur noch aus einem VW Emblem. Jetzt faellt der Blick auf mein rechtes Bein, das gleich mit dem PKW in Kontakt kommen wird. Schaue auf die Gegenfahrbahn, sie ist frei. Hoere mich rufen, nein schreien, Nein, halt an du A...h und weiss genau, der hoert mich nicht!

Sekunde 7

Lege mich nach links und reisse das Gas bis zum Anschlag auf, um der Stossstange zu entkommen. Mensch, der Tag war so schoen, wie wird er enden? Ich bin doch nur noch ein paar 100 Meter von zu Hause entfernt. Warum haelt dieses Drecksfahrzeug nicht an, der wird noch schneller. Mist, das war‘s, das geht nicht gut, du kommst nicht vorbei. Dein rechtes Bein kannst du wohl vergessen, ich werde nie wieder Motorradfahren koennen. Warum endet der schoene Ausflug nur so bescheuert?

Sekunde 8

Ein sehr dumpfer Schlag, ich hoere Plastik splittern, Glas bersten und jetzt kommt etwas Kurioses, sehe, wie sich zwei weisse Gebilde hinter der Windschutzscheibe vergroessern.

Dass es die Airbags waren, habe ich nicht realisiert.

Sekunde 9

Jetzt war es sehr still, hoerte nur das Rauschen des Windes und merkte, wie ich von einer unsichtbaren Kraft emporgehoben wurde. Sie war sanft und doch so gewaltig, kann es nicht anders erklaeren. Jetzt sah ich die Struktur des Strassenbelages ganz deutlich, jedes einzelne Steinchen, die von der Asphaltmasse umschlossen waren. Dieses Bild war aber nicht unter mir, sondern dort, wo zuvor der Himmel war. Ich fiel also in den Himmel, mein Weltbild stimmte aber nicht mehr, weil der Himmel blau ist und nicht asphaltgrau. Dieser Zustand wiederholte sich noch einmal. Der Flug dauerte eine  gefuehlte Ewigkeit.

Sekunde 10

Die Gedanken gingen weiter. Jetzt muss der Flug doch bald zu Ende sein. Wie ich wohl aufschlage? Senkrecht von oben mit dem Kopf zuerst? Ich sah wie mir das Blut aus dem Helm ueber das Gesicht stroemte.

Habe so einen Unfall bei einem Motorradrennen auf dem Salzburgring einmal gesehen. Da stieg ein Seitenwagenfahrer nach der Zieldurchfahrt ab, obwohl das Gespann noch sehr schnell war. Er stand fuer Sekundenbruchteile auf der Strasse, ueberschlug sich und schlug senkrecht mit dem Kopf auf die Strasse. Ueberschlug sich noch ein paar Mal, stand auf, das Blut lief aus dem Helm ueber sein Gesicht, sackte zusammen und verstarb. Zurueck zum Unfallgeschehen.

Genau dieses Bild hatte ich im Kopf, nur dass ich jetzt der Hauptdarsteller war. Ob ich wohl vor meinem Tod noch Schmerzen haben werde? Jetzt passierte noch etwas Aberwitziges, ich dachte an den Tomatensalat mit Mozzarella, den es zum Abendessen geben sollte. Mist, du hast doch gesagt, dass du rechtzeitig zum Abendessen zu Hause bist. Wer wird zu Hause Bescheid sagen, dass ich nicht komme? Beim letzten Blick auf den Asphalthimmel, kam meine rote BMW unter mir durch. Bloss nicht da drauf fallen, das tut sicher sehr weh.

Sekunde 11

Jetzt kam das aberwitzigste Gefuehl ueberhaupt. Ich merkte, wie ich mich ganz sanft seitlich auf die Strasse legte. Seitlich mit dem gesamten linken Bein und das ganz langsam nach und nach mit dem Oberkoerper bis zur  Schulter. Jetzt erhoehte sich die „Ablegegeschwindigkeit“ meines Koerpers dramatisch bis letztendlich der Helm auf der Strasse heftig aufschlug. Mist, die Helmlackierung wird wohl hinueber sein, das wirst du nicht mehr ausbessern koennen. Der naechste Gedanke war, werde wohl gleich komplett auf der Gegenfahrbahn liegen, weil ich den Kantstein kurz sah, der sich ueberdimensional vergroessert hat. Wie ueberhaupt alle Proportionen nicht mehr stimmten. Meine BMW hatte die Groesse meines BMW-Modells, das bei mir auf dem Schreibtisch steht. Wuerde sogar behaupten, ich habe es gesehen. Jetzt kam ein Feuerwerk, es sagte im Kopf „Zing“ und ich sah tausend Sterne, die auseinanderflogen und wieder zurueckkamen und sich in einen orangen Feuerball in Tennisballgroesse verklumpten. Jetzt wurde es dunkel und ich war in schwarzer Watte, ganz weich und sehr, sehr dunkel.

Sekunde?

Dann schmeckte ich etwas im Mund und dachte, mein Speichel hat sich in fluessiges und lauwarmes  Metall verwandelt, es war sehr viel. Versuchte zu schlucken, um es zu verringern, ging aber nicht. Jetzt drehte ich mich auf den Bauch und mein einziger Gedanke war, du musst von dieser Strasse weg, weil ich das Rumpeln eines LKW hoerte, der mich gleich ueberrollen wird, das Geraeusch war sehr deutlich.

Wie sich hinterher herausstellte, es war weit und breit kein LKW vorhanden.

Sekunde ? bis ?

Jetzt verspuerte ich das erste Mal Schmerzen, mein linkes Bein tat hoellisch weh und fuehlte sich dreimal so dick an und gehoerte einfach nicht zu mir. Es war aber da, wo es hingehoerte und war doch von mir entfernt. Schaute deshalb noch einmal, wie weit es von mir entfernt liegt. Lag es aber nicht, es war immer noch da, wo es hingehoerte. Jetzt meldeten sich nach und nach die Schmerzen an der gesamten linken Seite. Ich hoerte mich jammern, mein Bein, mein Bein, dieses verdammte A.......h!

Damit war der Autofahrer gemeint. Stellte sich hinterher heraus, dass es eine ca. 70-jaehrige Fahrerin war.

Hatte das Verlangen aufzustehen und dem Idioten auf die ........ zu hauen.

Ich schaeme mich auch heute noch nicht wegen dieser Gedanken, obwohl ich so etwas nie machen wuerde!

Ich kam vielleicht 10 cm voran und musste feststellen, ich hatte keinerlei Kraft, sie reichte gerade zum Atmen, was sehr schmerzhaft war. Jetzt wollte ich unbedingt meinen Helm loswerden. Nur nicht von einem Laien den Helm abnehmen lassen, der bringt dich nur um. *g Ich oeffnete das Schloss, bekam aber den Helm nicht ab, weil ich mit den Handschuhen nicht das richtige Gefuehl hatte. Zog sie ganz umstaendlich aus, weil ich den Klettverschluss nicht geoeffnet hatte. Muss zugegeben, ich war jetzt ein wenig panisch, wollte  doch nicht umgebracht werden. Nachdem ich die Handschuhe ausgezogen hatte, bekam ich den Helm immer noch nicht abgezogen, ich verspuerte nur ein komisches Gefuehl an der Nasenwurzel, das ich nicht deuten konnte. Es kam von der Sonnenbrille, die das Abziehen des Helms verhinderte. Sonnenbrille abgenommen, nein, abgerissen und nun liess sich der Helm ganz leicht abnehmen. Puh, was war ich froh, dass ich nicht umgebracht wurde. Ploetzlich kam ein milchglasartiger Schleier vor meine Augen, das waren Traenen.

Warum ich weinte, keine Ahnung, ist fuer mich untypisch, weil ich durch meinen Beruf Stresssituationen gewoehnt bin. Es war wohl eine Mischung aus Zorn, Schmerz oder Trauer um meine Maschine.

Hoerte mich jetzt leise und gepresst  stoehnen und eine Stimme aus einem ganzen Stimmengewirr: „Koennen sie mich verstehen, ich bin Medizinstudent und moechte ihnen helfen“.

Theatralikmodus on

Ich hob kurz den Kopf, sah auf mein sterbendes Motorrad und dachte, na Hauptsache, ich habe ueberlebt.

Theatralikmodus off

Dann wurden die Schmerzen saeuisch. Zum Medizinstudenten gesellten sich eine Krankenschwester und noch ein Arzt dazu, der aus seiner Praxis gegenueber kam. Die „Schwester“ sah sehr gut aus und hatte eine so tolle Stimme, dass ich dabei meine Schmerzen vergass, bzw. sie in den Hintergrund gerieten, weil ich mir doch als Mann keine Schwaechen erlauben durfte. *g Die Traenen waren weg, der Kloss im Hals blieb, hoerte mich nur wirres Zeug stammeln.

Mittlerweile trafen ein Rettungswagen und die Polizei ein, die sich sehr professionell um mich kuemmerten. Liess mich jetzt ganz und gar sinken, entspannte mich und ergab mich meinem Schicksal, egal was jetzt noch passieren wird. Fuehlte mich gut aufgehoben und sicher. Die Schmerzen waren weg, weil ich irgend so ein Leckmichamarschmedikament bekam. Der Rest verlief so normal, dass ich heute, zwei Jahre danach, nur noch ein paar kleine Schmerzen im Becken und in der Schulter habe.

Zum guten Schluss!

Bin ueberzeugt, dass mir noch viel mehr Gedanken durch den Kopf gegangen sind, ich mich aber nur an die geschilderten erinnern kann.

Aus dem Unfall bin ich mit +/- 0 € herausgekommen. Ausruestung und Motorrad wurden ersetzt und die laecherlichen 500 € Schmerzensgeld reichten aus, um mir einen gleichwertigen Ersatz meiner topgepflegten BMW zu beschaffen. Meine rote BMW haette ich niemals verkauft, deshalb trauere ich diesem Motorrad noch nach.

Die Autofahrerin hat sich nie bei mir gemeldet und sich erkundigt, wie es mir geht. Dafuer soll sie in der Hoelle schmoren. Ein Unfall kann jedem und jederzeit passieren, aber dann nicht dazu zu stehen, ist einfach daneben.